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EXPERTIN IM INTERVIEW

Warum psychosoziale Hilfe für junge Ukrainer:innen jetzt wichtig ist

Seit Kriegsausbruch in der Ukraine sind Millionen Menschen auf der Flucht – darunter viele Kinder und Jugendliche, die mit den psychosozialen Folgen der traumatischen Erlebnisse kämpfen. Das Team von SOS-krisenchat Ukraine steht ihnen in dieser schwierigen Zeit zur Seite und bietet kostenlose, digitale psychosoziale Beratung per Smartphone durch ukrainisch- und russischsprachige Krisenberater:innen.

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Viktoriia Prykhodko (Bild: krisenchat)

 

Das Projekt ist eine Kooperation des gemeinnützigen Berliner Start-ups krisenchat und der SOS-Kinderdörfer. Von der Zusammenarbeit profitieren beide Seiten: Das Hilfsangebot ist eine sinnvolle Ergänzung des Programms der SOS-Kinderdörfer zur mentalen Gesundheit. Krisenchat kann in Zukunft auf die wertvolle Expertise des Kooperationspartners auf dem Gebiet der Traumaarbeit mit Kindern und Jugendlichen zurückgreifen. Durch die finanzielle Unterstützung der SOS-Kinderdörfer kann außerdem das Beratungsteam personell verstärkt werden. Viktoriia Prykhodko ist eine der psychologischen Berater:innen bei krisenchat. Im Interview erzählt sie unter anderem, was ihre Arbeit bei SOS-krisenchat Ukraine ausmacht und weshalb gerade jetzt eine psychosoziale Stütze für ukrainische Kinder und Jugendliche von essenzieller Bedeutung ist. 

Frau Prykhodko, erzählen Sie uns doch erst einmal etwas zu Ihrer Vita und Ihrem Werdegang. Warum haben Sie sich für den Beruf der Psychologin entschieden?

Ich habe einen Masterabschluss in Klinischer Psychologie und arbeite seit nun schon zwei Jahren als psychologische Beraterin in den Bereichen Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) und Transaktionsanalyse (TA). Des Weiteren betreibe ich aktuell meine online-basierte Privatpraxis mit Klient:innen und arbeite bei krisenchat. Gelegentlich leite ich auch noch Workshops für ukrainische Unternehmen zum Thema „Selbstfürsorge während des Krieges“. Ich habe mich der Psychologie zugewandt, um Menschen zu einem helleren und bewussteren Leben zu verhelfen. Psychologie ist für mich etwas, worüber ich ewig etwas lernen kann, und zudem Menschen helfen kann Störungen vorzubeugen und glücklicher zu werden.

Wie sind Sie auf krisenchat aufmerksam geworden, und warum haben Sie sich für diese Arbeit entschieden?

Von krisenchat habe ich über LinkedIn erfahren. Ich war von dieser Initiative wirklich beeindruckt und wollte natürlich Teil von ihr werden. Ich weiß, wie ukrainische Menschen derzeit mit all den Situationen zu kämpfen haben. Ich weiß auch, dass nicht alle unter ihnen bereit sind, Psycholog:innen oder Psychotherapeut:innen aufzusuchen, was später zu einem echten Problem werden kann. Deshalb ist krisenchat für mich eine Gelegenheit, mein Wissen und meine Fertigkeiten zu teilen und die ukrainischen Menschen zu unterstützen.

So ist der SOS-krisenchat Ukraine erreichbar:

  • Per SMS, WhatsApp und dem Messenger-Dienst Telegram unter der Nummer +49-1573-5993126 
  • Über die Website: www.krisenchat.de/ukraine

Mit welchen Anliegen melden sich die Hilfesuchenden aus der Ukraine bei Ihnen, und wie können Sie ihnen helfen?

Ich würde sagen, dass wir bereits einige Typen besonders häufiger Anliegen der Hilfesuchenden haben. Der Umgang mit Ängstlichkeit, insbesondere Zukunftsängsten, gehört dazu. Ebenso akute Gefühle wie Suizidalität und Selbstschädigung, was sehr heikle Themen sind, da die Hilfesuchende häufig Angst haben, anderen davon zu erzählen. Außerdem berichten die Chatter:innen von Apathie, wenig Energie, Erschöpfung, Heimweh sowie dem Unwillen, im neuen Land etwas zu unternehmen. Natürlich geht es auch um akuten Stress sowie erste PTBS-Symptome wie Albträume, Überlebensschuld, Angst vor bestimmten Geräuschen und unkontrollierte Emotionen. Einige möchten mit uns über Beziehungsfragen mit Partner:innen oder Eltern sprechen. Darüber hinaus erreichen uns Anfragen nach Ressourcen, Information zur Gesundheitsversorgung oder Hilfe in Rechtsfragen.

Unser Hauptziel ist es, Hilfesuchenden einen sicheren Raum für ihre Gedanken und Gefühle zu bieten. Ein Ort, in dem sie sich unterstützt und gehört fühlen. Wir können also ihre Gefühle validieren, ihnen die Prozesse als eine Art Psychoedukation erklären, einfache Stabilisierungsübungen zur Emotionsregulation mitgeben und helfen, ihre eigenen Ressourcen zu aktivieren. Wenn es eine akute Situation ist, erstellen wir mit den Hilfesuchenden einen Sicherheitsplan. Das Wichtigste ist, dass wir eine unterstützende und sichere Umgebung ohne Wertung bieten.

Es geht also vor allem um die Unterstützung in akuten Krisensituationen. Wie gehen Sie es an, auch nachhaltig zu helfen?

Nun, krisenchat ist eine Krisenberatung und keine Psychotherapie. Insofern geht es uns um kurzfristige Hilfestellung. Wir haben jedoch keine Beschränkungen dahingehend, wie häufig Hilfesuchende uns schreiben können. So haben wir recht viele wiederkehrende Chats, in denen die Menschen uns hin und wieder schreiben. Und in dieser Hinsicht kann unsere Hilfe ausreichend nachhaltig sein, denn sie wird für die Menschen zu einem sicheren Ort, wo sie sich nicht nur aussprechen, sondern auch lernen können, ihre Gefühle und Gedanken zu verstehen, ihre Emotionen zu regulieren und ehrlicher zu sich selbst zu sein.

Die Beratung bei SOS-krisenchat Ukraine ist, wie Sie gesagt haben, eine kurzfristige psychosoziale Stütze. Erhalten Sie denn auch ab und an Feedback von Chatter:innen nach der Beratung?

Ja, natürlich. Manche Chatter:innen teilen ihr Feedback mit uns. Natürlich fragen wir sie dann auch, wie sie sich nach unserem Austausch fühlen, um herauszufinden, ob unsere Interventionen ausreichend hilfreich sind. Wir haben bereits zahlreiches positives Feedback zu unserer Beratung erhalten und freuen uns darüber natürlich sehr.

Jetzt ansehen: TV-Beitrag über den krisenchat bei ARD Brisant

Quelle: Das Erste

Der SOS-krisenchat Ukraine konnte ja bereits über 1.600 jungen Ukrainer:innen helfen. Was denken Sie, wieso die Beratung per Chat eigentlich so hilfreich ist?

Zuallererst ist es eine sehr übliche Kommunikationsweise, insbesondere für junge Menschen unter 25. Ich denke, es hilft zu entspannen, Scham zu reduzieren und weniger ängstlich zu sein, weil es aussehen kann wie ein Chat mit einer Freundin oder einem Freund. Außerdem spielt die Anonymität eine große Rolle. Wir haben keine Fotos der Chatter:innen, wir können sie nicht hören oder sehen. Das hilft, über Gefühle zu sprechen, besonders weil es für die meisten Menschen im Chat ihre erste Erfahrung mit psychologischer Hilfe ist.

Wieso ist es Ihrer Meinung nach generell so wichtig, mit den Hilfesuchenden zu kommunizieren? 

Hilfesuchende sind oft in einem verzweifelten Zustand und stehen unter Dauerstress. Sie erleiden Krisen und harte Zeiten, weil sie ihr übliches Leben auf verschiedene Weise verloren haben. Die meisten von ihnen bekommen keine Unterstützung von ihren Familien oder Nahestehenden, oder diese Unterstützung reicht nicht aus. Deshalb ist es wichtig, ihnen einen sicheren Ort zu bieten, wo sie akzeptiert und gehört werden, um PTBS, Störungen und Suizidversuchen vorzubeugen. Dieser Austausch hilft ihnen, Erleichterung zu verspüren, Wege zur Problembewältigung zu finden und gibt den Chatter:innen das Gefühl, dass sie nicht allein sind.

Was könnte passieren, wenn eine solche Beratung nicht stattfindet? Wie würden Sie die Risiken einschätzen?

Wenn es keine psychotherapeutische Hilfe gäbe, gäbe es kurz- und langfristige Risiken. Ich denke, die kurzfristigen Risiken sind Suizidalität und ein geringes adaptives Funktionsniveau im Alltag. Das Langzeitrisiko in so einer traumatisierenden Situation ist die Entstehung von ABR, PTBS oder komplexen Traumafolgestörung. Um diesen Folgen vorzubeugen, können wir mit den Menschen jetzt sprechen, ihnen Psychoedukation anbieten und helfen, Resilienzfaktoren zu entwickeln, die in traumatisierenden Situationen hilfreich sind. Psychotherapeutische Hilfe führt daher meistens zu posttraumatischem Wachstum und reduziert die Wahrscheinlichkeit der Entstehung psychischer Störungen.

Vielen Dank für das Gespräch Frau Prykhodko und Ihre wertvolle Arbeit!

Der SOS-krisenchat Ukraine ist Teil umfangreicher Hilfsmaßnahmen der SOS-Kinderdörfer für ukrainische Kinder und Familien in zahlreichen Ländern. Auch in der Ukraine selbst ist die Hilfsorganisation weiterhin aktiv und unterstützt die Menschen. Weitere Informationen finden Sie hier

Die Hilfsmaßnahmen müssen stetig an die sich verändernde Situation angepasst werden. Neben akuter Soforthilfe sollen betroffene Familien auch langfristig unterstützt werden.

Hier finden Sie weitere Informationen zur Ukraine-Hilfe der SOS-Kinderdörfer.

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