Ein Kampf gegen
den eisigen Winter

Noch nie waren weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie in diesem Jahr. Kriege, Zerstörung und Umweltkatastrophen zwingen sie, ihre Heimat zu verlassen. Und jetzt müssen die Geflüchteten ihre Kinder vor Hunger und Kälte schützen.

Es sind so schöne Erinnerungen. In Tschernihiw, einer Stadt im Norden der Ukraine, hat es in der Nacht geschneit, ein Teppich aus flauschigem Schnee liegt morgens vor dem Haus. Die sechsjährige Melaniia ist begeistert. Schnell warme Sachen angezogen und dann nichts wie raus mit dem rosa Schlitten zu ihren Freundinnen. Erst rodeln und dann einen Schneemann bauen...

Melaniia träumt gerne von diesen Tagen des Glücks. Sie sind lange her. Denn seit dem Frühling 2022 ist nichts mehr, wie es war in Tschernihiw. 30 Tage lang im März und April wurde die Stadt heftig beschossen, Raketen und Geschosse brachten Tod, Verwüstung und Zerstörung. Die Bewohner packten ihre Sachen zusammen und suchten Schutz in Bunkern. Oder flohen weiter weg, um sich in Sicherheit zu bringen. So wie Melaniias Familie, die in ein weit entferntes Dorf zog.

Melaniias Großmutter Tamara, eine 65-jährige ehemalige Fabrikarbeiterin, blieb in dem Haus, in dem sie aufgewachsen ist. Sie blickt über einen weißen Zaun und zeigt auf das Nachbarhaus: „Meine 85-jährige Mutter Kateryna und mein Bruder leben hier. Mein Bruder ist behindert, und meine Mutter kann kaum gehen. Ich konnte sie nicht zurücklassen.“

Jeden Tag hört die Familie heftige Einschläge und Explosionen um sie herum. Und nun kommt der Winter. Ohne Rodeln und Schneemannbauen. Sondern mit der Angst vor Kälte, nassen Wänden und Dunkelheit.

Hinter jeder Zahl ein Schicksal

Mehr als 108 Millionen Menschen waren Ende 2022 weltweit auf der Flucht – vor Krieg, vor Hunger, vor Kälte. Diese Zahl steigt kontinuierlich weiter an. Eine Trendumkehr ist nicht in Sicht, im Gegenteil. Der Krieg in der Ukraine hat die am schnellsten wachsende Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Auch der Konflikt in Sudan, ebenso wie die humanitäre Krise in Afghanistan, haben neue Fluchtbewegungen verursacht. Die Gesamtzahl der Geflüchteten ist damit nach Schätzungen des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) vermutlich auf 114 Millionen angestiegen. Verglichen mit dem Vorjahr ist das der größte Anstieg, der jemals zu verzeichnen war. Und hinter jeder einzelnen Zahl steckt ein menschliches Schicksal.

108 Mio.

2022

114 Mio.

2023

Dabei ist der aktuelle Konflikt im Nahen Osten, der am 7. Oktober mit dem Terrorangriff der Hamas in Israel begonnen hat, noch gar nicht berücksichtigt. „Die Weltöffentlichkeit konzentriert sich derzeit – zu Recht – auf die humanitäre Katastrophe in Gaza. Aber weltweit breiten sich viel zu viele Konflikte aus, oder sie eskalieren, dabei zerstören sie unschuldige Leben und entwurzeln Menschen“, sagt UN-Flüchtlingshochkommissar Filippo Grandi.

Das heißt, humanitäre Hilfe für Flüchtlinge und vertriebene Familien ist so nötig wie nie zuvor. In der Ukraine beispielsweise ist die Lage nach wie vor dramatisch, auch wenn die Menschen dort bewundernswerten Willen zeigen, um sich selbst zu helfen, ihre Familien und Nachbarn mit Lebensmitteln und Wasser zu versorgen, Häuser vor dem nahenden Winter zu schützen.

Zelte, Lebensmittel, Medikamente

Der UNHCR wird auch in diesem Winter in der Ukraine – und in vielen anderen Ländern – helfen, die schlimmsten Folgen von Kälte und Flucht zu lindern. Es gehe darum, „Menschen, die zur Flucht gezwungen wurden, zu befähigen, ihre Rechte und ihre Würde wiederzuerlangen“, sagt Karolina Lindholm Billing, die UNHCR-Vertreterin in der Ukraine. Die Flüchtlingshilfe ihrer Organisation sei „nicht theoretisch oder akademisch, sondern sehr praxisorientiert“.

„Als UNHCR-Vertreterin in der Ukraine treffe ich viele Familien, die von ihren Angehörigen getrennt wurden, deren Häuser zerstört wurden und denen die Möglichkeit genommen wurde, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und gerade jetzt sind Millionen von Menschen in der Ukraine einer weiteren Gefahr ausgesetzt – der bitteren Winterkälte.“

Karolina Lindholm Billing
UNHCR-Vertreterin in der Ukraine

Weil dabei oft überlebenswichtige Hilfe gefragt ist, muss der UNHCR in Krisensituationen schnell handeln. Geflüchtete sind darauf angewiesen, dass Nahrungsmittel, Medikamente oder Unterkünfte innerhalb kürzester Zeit zur Verfügung stehen. In vielen Regionen der Welt sind es UNHCR-Zelte, die den Menschen in Flüchtlingscamps Schutz, Sicherheit und Privatsphäre geben. In großen Warenlagern auf der ganzen Welt hält der UNHCR Decken, Planen, Kochgeschirr und Moskitonetze bereit. Ebenso wichtig wie materielle Hilfe ist die organisationsübergreifende Koordination. Die Aufgaben sind so gewaltig und komplex, dass sie nicht von einer Organisation allein bewältigt werden können. Hier kommt dem UNHCR sein großes Know-how und seine Erfahrung zugute. In Zusammenarbeit mit anderen UN- und Partnerorganisationen wird schnell und effektiv humanitäre Hilfe geleistet.

Die Folgen des Klimawandels

Am Beispiel des Krieges in der Ukraine zeigt sich deutlich, welche Folgen solche Konflikte für die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht nur im Ursprungsland, sondern weltweit haben – und damit auch für geflüchtete Menschen. Der Anstieg der Energie- und Rohstoffpreise wirkt sich auf alle Gesellschaften aus, doch die Schwächsten und Verletzlichsten sind am schlimmsten betroffen.

Ähnliches gilt für die Auswirkungen des Klimawandels. Millionen von geflüchteten und staatenlosen Menschen leben in klimatisch gefährdeten Regionen und sind Katastrophen wie extremen Temperaturen, Stürmen und Überschwemmungen ausgesetzt. Besonders schlimm für die Bevölkerung wird es dann, wenn solche Naturereignisse auf schon bestehende Konflikte und Kriege treffen. In Syrien beispielsweise. „2005 litt mein Land unter einer starken Dürre“, berichtet Majd Esser, geboren in Damaskus und heute Student der Politikwissenschaft in Bremen. Majds Onkel war Imker, die Hälfte seiner Bienen starb aufgrund der Hitze, die seitdem jedes Jahr schlimmer wird. Er musste seine Region verlassen und in die ohnehin schon übervölkerte Stadt ziehen. „Es gab viele Probleme, die Arbeitslosenquote stieg. Auch das führte sicherlich zur Revolution in unserem Land.“ Majd ist überzeugt: „Die Klimakrise war ein Grund für den Bürgerkrieg. Nicht der entscheidende, aber einer.“

Mit dem nahenden Winter wird das Leid noch zunehmen. So sind die geflohenen Syrer im gesamten Nahen Osten Schneestürmen und eisigen Temperaturen ausgesetzt. Anders als viele Menschen denken, sind die Winter in dieser Region bitterkalt. In Afghanistan erleben die Familien den seit Jahren andauernden Niedergang der Wirtschaft, dazu kommen die Folgen von Dürre, Überschwemmungen und einem katastrophalen Erdbeben.

Um die Risiken für diese gefährdeten Gesellschaften zu verringern, verstärkt der UNHCR seine Anstrengungen für lebenswichtige Hilfen. Deshalb benötigt das Flüchtlingshilfswerk dringend finanzielle Unterstützung.

„Die Kinder sicher und warm halten“

Prominente wie Oscar-Preisträgerin Cate Blanchett setzen sich als „UNHCR-Botschafter des guten Willens“ dafür ein, dass Menschen vom Leid der Geflüchteten erfahren und die wichtige Arbeit des UNHCR mit Spenden unterstützen. Die australische Schauspielerin hat selbst ein syrisches Flüchtlingslager in Jordanien besucht. Sie schildert ihre Erlebnisse so: „Die Temperaturen sinken, und der Wind wird jeden Tag stärker. In einer Unterkunft kauert eine Gruppe junger Geschwister um einen Kerosinofen, um sich warm zu halten. Ich möchte diese verletzlichen Kinder in eine kuschelige Decke einwickeln und sie sicher und warm halten. Obwohl ich selbst Mutter bin, kann ich mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, welche Sorgen die Eltern dieser Kinder haben müssen.“

Solche bedrückenden Szenen erleben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des UNHCR jeden Tag. Sie wünschen sich, das Leid schneller und effektiver lindern zu können. Damit Kinder wie die sechsjährige Ukrainerin Melaniia irgendwann wieder unbeschwert im Schnee spielen können.

Die UNO-Flüchtlingshilfe als deutscher Partner des UNHCR engagiert sich als gemeinnütziger Verein seit 1980 für geflüchtete Menschen weltweit.