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„Erst sechs von hundert Unternehmen haben gehandelt“

Studie: Technology Vision
EXPERTEN-INTERVIEW

Welche Trends sind wichtig, Tobias Regenfuß?

„Erst sechs von hundert Unternehmen haben gehandelt“

Ein Experte, vier Tech-Trends und noch mehr Fragen: Im Interview zur Studie „Technology Vision“ erläutert Tobias Regenfuß, Senior Managing Director und Technology Lead DACH bei Accenture, welche Entwicklungen Unternehmen derzeit keinesfalls verpassen dürfen – und was passiert, wenn sie es doch tun.

Herr Regenfuß, die Technology Vision von Accenture beschreibt, dass Technologie – getrieben durch die Fortschritte im Bereich Künstliche Intelligenz (KI) – gerade dabei ist, die Schnittstelle zwischen Menschen und Technik neu zu definieren. Das Schlagwort hier ist „Human by Design“. War Technologie früher nicht schon auf den User ausgerichtet?

Der User-Fokus ist nicht neu, richtig. Aber wie nutzerfreundlich ist Technologie denn wirklich? Heute muss der User denken wie die Maschine und der Logik der Software folgen, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen. Software-Updates erfordern zudem regelmäßiges Umlernen – das macht uns als User:innen ganz schön zu schaffen. Die Entwicklung geht nun dahin, dass Maschinen zunehmend menschlicher denken, und natürliche Sprache verstehen und sprechen. Dazu bekommen sie Unterstützung durch Sensoren und Technologien, die unsere Aktionen quasi maschinenlesbar machen. Die Nutzung von Technik wird damit deutlich intuitiver und für uns menschlicher.

Bevor wir zu den einzelnen Trends kommen: Wenn KI immer leistungsfähiger wird, ist das für Sie ein Grund zur Hoffnung oder zur Sorge?

Zur Hoffnung! Ohne ein Aber geht es dabei jedoch nicht.

Das da wäre?

Rasante technologische Entwicklung ist gut und eröffnet neue Chancen. Aber: Sie erfordert gleichzeitig einen sorgsamen Umgang. Der EU AI Act, eine Verordnung zur Regulierung von KI in der EU, ist ein guter Schritt, um die Grenzen des Möglichen in den Grenzen des Verantwortbaren zu halten. Ich glaube, dass sich Unternehmen deshalb jetzt mit dem Thema „Responsible AI“ beschäftigen müssen. 94 Prozent der von uns befragten Entscheider:innen sehen die Wichtigkeit von verantwortlichem Umgang mit KI, aber erst 6 Prozent haben bereits gehandelt und entsprechende Leitlinien auch praktisch im Unternehmen umgesetzt.

Wie sollten Unternehmen sich also jetzt positionieren?

Vier Schritte sind aus meiner Sicht wichtig: Zuerst brauchen Unternehmen eine Strategie, in welchem Maß ihnen KI konkret helfen kann, die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Daran sollte ein konkreter Umsetzungsplan geknüpft werden. Zweitens sind sie gut beraten, sich um die Qualität und Quantität ihrer Daten zu kümmern – denn das wird im Wettbewerb entscheidend sein. Je besser die Datenlage, desto größer sind die Vorteile, die KI-Lösungen ihnen bieten werden. Drittens sollten Unternehmen verstehen, wie KI die Arbeit, einzelne Tätigkeiten und die Zusammensetzung der Teams im Unternehmen verändert – hier geht es zentral um die Weiterqualifizierung der Beschäftigten, sodass diese mit den neuen Technologien umgehen können. Viertens brauchen sie ein praktisches Risiko-Management und ein Monitoring für ihre KI-Anwendungen, damit ihre Unternehmenswerte auch im digitalen Raum gewahrt bleiben.

Trend I

KI verändert radikal, wie wir mit Wissen umgehen

Die neuen Fähigkeiten von KI, mit unstrukturierten Daten und Dokumenten umzugehen, erschließt neue Möglichkeiten, die in den Unternehmen schlummernden Wissenschätze zugänglich zu machen.

Durch Large Language Models (LLMs), auf denen zum Beispiel die Funktionsweise von ChatGPT basiert, kann Wissen im Unternehmen neu erschlossen werden. Wie verändert sich dadurch die Arbeit innerhalb von Unternehmen?

Mit generativer KI und modernen Suchalgorithmen können wir das „Weltwissen“, mit dem ein ChatGPT, Gemini oder Claude LLM trainiert wurden, kombinieren mit dem speziellen Wissen, das in den Datenbanken und Dokumentenablagen der einzelnen Unternehmen gut gehütet vorliegt. Suchvorgänge, zum Beispiel in komplexen Vertragsdokumenten, in Produktbeschreibungen oder der Kundenkorrespondenz werden radikal vereinfacht. Ein einfaches Chatfenster oder ein Sprachdialog machen den Mitarbeitenden das gesamte Wissen im Unternehmen zugänglich. Das ist ein Produktivitäts-Booster auf allen Ebenen. Mitarbeitende können sich dann stärker auf Entscheidungsfindung, Bewertungen und Kommunikation konzentrieren, anstatt auf die Recherche von Informationen.

Mit steigender Betriebszugehörigkeit wuchs bisher auch das Wissen von Menschen über ihr Unternehmen an. Wird Unternehmenstreue dadurch weniger wert?

Nein. Wir müssen hier verschiedene Typen unterscheiden: die Praktikant:innen und die Expert:innen. KI-Lösungen agieren wie kompetente Praktikant:innen, indem sie Recherche- und Aufbereitungsaufgaben übernehmen und so die Expert:innen entlasten, damit diese fundierte Entscheidungen treffen können. Die Herausforderung liegt in Zukunft darin, Mitarbeitende schneller auf das Niveau einer Expertin oder eines Experten zu heben, da die Routinetätigkeiten, die bisher beim Kompetenzaufbau halfen, zunehmend von KI übernommen werden. Das verändert die Arbeitsorganisation und die Weiterbildungsaktivitäten gleichermaßen.

Bewertende Tätigkeiten sind meist komplexer als Routineprozesse. Arbeiten wir künftig vielleicht weniger als 40 Stunden pro Woche?

Das kann ich mir gut vorstellen. Der intellektuelle Anspruch an menschliche Arbeit wird steigen. Und dieses Niveau kann man gegebenenfalls nicht acht Stunden pro Tag halten. Wir haben das selbst gemerkt, als wir Trainingsdaten in Form von Frage-Antwort-Paaren für einen großen KI-Anbieter erstellt haben. Diese Aufgaben sind für Menschen sehr fordernd.

Welche Qualifikationen werden künftig wichtig?

Es wird wichtig werden, zu lernen, wie Menschen mit KI-Lösungen in Form von Prompts umgehen können. Diese Kompetenzen müssen Unternehmen vermitteln. Und in Zukunft werden Mitarbeitende mehr Zeit für die Interaktion mit Kund:innen und Unternehmenspartner:innen haben. Soziale und emotionale Intelligenz wird also ebenfalls wichtiger werden.

Trend II

KI-Lösungen arbeiten selbstständig zusammen

Von der Hilfe zum Helfer: KI-Anwendungen agieren künftig immer autarker. Sie erstellen Inhalte, bewerten sie und benutzen Werkzeuge, um ihr Ziel zu erreichen.

KI-Systeme sollen bald andere KIs steuern und mit ihrer Hilfe Aufgaben erfüllen: Die KI wird zum sogenannten Agenten. Was verbirgt sich dahinter?

Bei Agenten reden wir von Systemen, die komplexe Sequenzen von Aktivitäten eigenständig planen und durchführen können. KI-Agenten besitzen die Fähigkeit, nicht nur einfache Aufgaben auszuführen, sondern sie arbeiten diverse Schritte nacheinander ab und sichern dabei die Ergebnisqualität. Dabei benutzen sie auch Werkzeuge, wie zum Beispiel Internetsuche oder rufen Unternehmensanwendungen auf, oder sie interagieren mit anderen KI-Systemen. Dabei stellen sie selbstständig Rückfragen oder treffen eigenständig Entscheidungen in ihrem vorgegebenen Handlungsrahmen.

Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

MetaGPT ist ein solches Agenten-System in der Software-Entwicklung. Hierbei übernimmt ein Agent die Rolle des Produktmanagers, der eine bestimmte Lösung in Auftrag gibt. Eine andere KI entwickelt daraufhin die benötigte Architektur, eine weitere den Programmcode, eine dritte die User-Oberfläche und eine vierte testet das Endprodukt und macht Optimierungsvorschläge. Die Produktmanager-KI wertet in der Rolle des Agenten die einzelnen Schritte aus und verfeinert sie immer weiter. Das ist aber noch nicht alles.

Was ist noch möglich?

Es gibt bereits Prototypen von KI-Agenten für die Chemie- und Pharma-Industrie, die eine Wirkstoffentwicklung zunächst digital anstoßen und dann chemische Tests in einem realen Labor durchführen. Bei seiner Arbeit greift der Agent auf die Daten des Unternehmens zurück und sucht nach neuen oder fehlenden Informationen im Internet sowie in Fachdatenbanken und steuert das Labor digital an. Das beschleunigt die Forschung deutlich.

Trend III

Die digitale Welt wird real – oder?

Sogenanntes Spatial Computing soll die physische Welt mit der digitalen verschmelzen lassen. Die Art, wie Menschen leben und arbeiten, kann sich dadurch enorm verändern.

Mit dem Metaverse verband schon die Technology Vision 2022 große Hoffnungen. Nun also Spatial Computing, das sehr ähnlich zu sein scheint. Was ist jetzt anders als noch vor zwei Jahren, wenn es um die Verbindung der digitalen mit der realen Welt geht?

Menschen denken und agieren dreidimensional. Die Zeit ist gekommen, dass unsere digitalen Umfelder ebenfalls dreidimensional erlebbar für uns werden, besser als noch bei Metaverse-Anwendungen, die bis heute eher eine Randerscheinung für Konsument:innen sind. Spatial Computing, also die räumliche Interaktion von Menschen mit digitalen Systemen, greift weiter. Denken Sie zum Beispiel an digitale Zwillinge von ganzen Industrieanlagen oder virtuelle Schulungsumgebungen für die Wartung von Maschinen.

Wie wichtig ist Spatial Computing also?

Ohne diese Technologie werden viele Unternehmen nicht wettbewerbsfähig sein. Das gilt zum Beispiel für unseren deutschen Maschinenbau. Dessen Kund:innen werden in Zukunft neben der Maschine einen digitalen Zwilling haben wollen, um zu simulieren, zu testen, einfacher zu schulen und die Wartung zu vereinfachen. Die genannten Anwendungen werden nachgefragt, weil sie für echte Mehrwerte in Organisationen sorgen.

Wie realistisch sind die digitalen Inhalte bislang?

Die Technologie ist bereits sehr leistungsfähig. Für die 3D-Visualisierung sind zum Beispiel mit der Apple VisionPro und vergleichbaren Headsets der neuesten Generation leistungsfähige Plattformen auf dem Markt. Generative KI hilft hier übrigens, immer schneller und günstiger 3D-Welten zu kreieren und in hoher Auflösung verfügbar zu machen. Wir sehen dabei einen schnell steigenden Bedarf, insbesondere aus dem Anlagenbau und der Flugzeug- sowie Automobilbranche solche dreidimensionalen Welten zu schaffen. Die wesentlichen Anwendungsfelder sind hier die Schulung von Personal, Simulation von Abläufen und Vereinfachung in der Fernwartung.

Trend IV

Wenn die Maschine unsere Wünsche kennt

Neue Generationen von Sensoren bieten neue Möglichkeiten, mit Technologie zu interagieren und uns die Wünsche „von den Augen“ abzulesen.

Der vierte große Trend der Technology Vision ist die stärkere Verbindung von Mensch und Computer durch immer bessere Sensoren, die auf menschliche Stimme, Bewegung, unsere Gesten bis hin zu unserer Gehirnaktivität reagieren. Wie ordnen Sie diesen Trend ein, eher sinnvoll oder rein explorativ?

Technologie hilft uns mit ihren Sensoren zunehmend, uns zu organisieren und ein besseres Leben zu führen. Drei Beispiele: In einigen Oberklasseautos überwachen Sensoren bereits die Aufmerksamkeit des Fahrers, in jedem Smartphone ist ein GPS-Chip verbaut, der uns das Navigieren erlaubt, oder eine Kamera, die unser Gesicht erkennt. Sensoren sind schon überall, und wir profitieren enorm von ihnen.

Und wie steht es um sogenannte Brain-Computer-Interfaces, mit denen Hirnströme von Computern auswertbar gemacht werden?

Das sehe ich noch als eher explorativ an. Doch auch das ändert sich: Stirnbänder zur Schlaganfallerkennung sind bereits kurz vor der medizinischen Zulassung. Es gibt bereits Baustellenhelme, die die Aufmerksamkeit ihrer Träger:innen überwachen und signalisieren, wenn es ratsam ist, den Gefahrenbereich wegen aufkommender Müdigkeit zu verlassen.

Die Voraussetzung dafür ist aber, dass sich Menschen finden, die sich gerne auf diese Art beaufsichtigen lassen wollen.

Exakt, deshalb braucht es einerseits klare gesetzliche, im gesellschaftlichen Dialog aufgestellte Regeln, die definieren, was für welche Anwendungsfälle erlaubt ist. Und andererseits sind die Unternehmen gefragt, Transparenz herzustellen, wie sie welche Daten nutzen. Nur so lässt sich Vertrauen schaffen – bei Mitarbeitenden sowie bei Kund:innen. Für Marken ist das eine riesige Chance oder ein Risiko, wenn sie sich mit der moralischen Seite ihrer Technologien nicht befassen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Hier geht es zur Technology Vision von Accenture

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