Digitale Gesundheit: Deutschland kann aufholen
Die USA und China nutzen Daten im großen Stil, um die Digitalisierung der Gesundheitsbranche voranzutreiben. Auch hierzulande sind die Weichen gestellt – Datenschutz kann für Deutschland dabei eine Chance sein.
19. März - 7 Min. Lesezeit
Hannah Wagner verabschiedet sich von ihrer Therapeutin und klappt den Laptop zu. Es hat gutgetan, über ihre Sorgen zu sprechen: Der Stress im Job und die Angst, nicht genügend Aufmerksamkeit für ihre Kinder und in ihrer Partnerschaft zu haben. Und die Frage, wie sie all die Ansprüche mit Zeit für sich selbst und ihrer eigenen mentalen Gesundheit vereint.
Als sie merkte, dass die Sorgen an ihr nagten, machte Hannah Wagner kurzfristig einen Termin für eine Online-Sitzung mit ihrer Therapeutin aus. Terminfindung, Sitzung und auch die Abrechnung laufen digital – Umstände, die Hannah Wagner in ihrem arbeitsreichen Alltag sehr entgegenkommen und sie entlasten.
In den USA, wo Hannah Wagner lebt, gehören Online-Therapiesitzungen und Online-Sprechstunden zum Alltag der Gesundheitsversorgung. Digitalunternehmen versuchen dort außerdem neue Diagnostiksysteme zu entwickeln, um Krankheiten wie Brustkrebs früher zu erkennen. In China werden Kranke mittlerweile in sogenannten „One Minute Clinics“ von einer Künstlichen Intelligenz (KI) digital diagnostiziert und bekommen noch vor Ort die nötigen Medikamente.
Hat Deutschland den Anschluss verpasst?
Hat Deutschland bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens den Anschluss verpasst? Nicht wirklich. Die Zahl der Patientinnen und Patienten, die eine Online-Sprechstunde wahrgenommen haben, hat sich laut einer Umfrage des Digitalverbands Bitkom zwischen Frühjahr 2019 und Juli 2020 beinahe verdreifacht.
„Den Krankenkassen kommt bei der Digitalisierung eine wichtige Rolle zu“, sagt Professor Jochen A. Werner, medizinischer Direktor und CEO des Universitätskrankenhauses Essen. Werner beschäftigt sich seit Jahren mit dem digitalen Wandel in der Branche und plädiert dafür, das ganze Gesundheitswesen neu und digital zu denken – vom Hausarzt über Universitätskliniken bis hin zu Physiotherapeuten.
Krankenversicherer können die Weichen für eine bessere Vernetzung im Gesundheitssystem stellen, denn bei ihnen laufen zahlreiche Daten zusammen. Schon heute erleichtert die Techniker Krankenkasse (kurz: TK) ihren Versicherten die Versorgung mit Services wie der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und der elektronischen Patientenakte. 2019 startete die TK ein Pilotprojekt zum eRezept, das das Gesundheitsministerium Anfang 2022 verpflichtend einführen will. Die App „OnlineDoctor“ ermöglicht TK-Versicherten seit Ende 2020, mittels Fotos und Fragebogen bei Hautproblemen Fachärztinnen und Fachärzte digital um Rat zu fragen.
Das Digitale-Versorgung-Gesetz, das Bundesgesundheitsminister Jens Spahn 2019 auf den Weg brachte, ist für die Branche ein wichtiger Schritt nach vorn. Ärzte können seither Gesundheits-Apps, die etwa Menschen mit Schlafstörungen durch das Tracking ihres Schlaf-Wach-Rhythmus unterstützen oder eine Online-Therapie für Patienten mit leichten Depressionen anbieten, auf Rezept verschreiben. Die Kosten dafür übernehmen die Krankenkassen, sie können damit digitale Services fördern, die eine patientenorientierte Behandlung ermöglichen. Eine verbesserte digitale Infrastruktur sollen die elektronische Patientenakte und Videosprechstunden bald zur Routine machen. Und ein Forschungsdatenzentrum soll die Abrechnungsdaten der Krankenkassen anonymisiert sammeln und für wissenschaftliche Arbeiten zur Verfügung stellen.
Blicke nach China und in die USA
Bei wissensbasierten Systemen und Datennutzung lohnt der Blick ins Ausland, um Chancen und Risiken auszumachen. „Die Tech-Konzerne in den USA und China verfolgen systematisch das Ziel, gesammelte Gesundheitsdaten so auszuwerten, dass man auf ihrer Basis die Versorgung verbessern bzw. effizienter gestalten kann“, sagt Susanne Ozegowski, Leiterin Unternehmensentwicklung bei der TK. Googles Tochterunternehmen Calico forscht zum Beispiel an einer KI, die Brustkrebs früh diagnostizieren und Diabetiker mit dem höchsten Risiko für Erblindung erkennen kann. Der chinesische Versicherungskonzern Ping An kreierte das Online-Portal „Good Doctor“, das ärztliche und medizinische Versorgung zu jeder Tageszeit möglich macht. Mithilfe einer KI vermittelt „Good Doctor“ Nutzerinnen und Nutzer, die auf der Suche nach medizinischer Behandlung sind, an Profis und Kliniken mit freien Kapazitäten.
Als Reaktion auf den akuten Ärztemangel in China wurden außerdem die „One Minute Clinics“ entwickelt: Eine Box vergleichbar einem Fotoautomaten, in dem Kranke einem Computer ihre Symptome schildern. Kann die Künstliche Intelligenz daraus eine Diagnose ableiten, welche medikamentös behandelbar ist, stellt sie ein Rezept aus. Ist sich die KI unsicher, schaltet sie einen echten Arzt dazu. Nach der Diagnose können die gängigsten Medikamente aus einem an die Box angeschlossenen Automaten direkt bezogen werden.
„Natürlich muss man darüber sprechen, ob sich so ein Modell in Punkto Datenschutz und Haftungsthemen auf Deutschland übertragen lässt“, sagt Ozegowski. „Aber wenn wir beispielsweise eine KI nutzen könnten, um in der Diagnostik eine Hypothese zu bilden, auf deren Basis Ärztinnen und Ärzte arbeiten, wäre das ein Weg, sie zeitlich zu entlasten.“
Jochen A. Werner sieht weitere Vorteile: „Wer in der radiologischen Diagnostik den ganzen Tag Mammografien auswertet, läuft Gefahr, zu ermüden und dabei Dinge zu übersehen. Ein lernendes System einer KI könnte hier unterstützen und die korrekte Diagnostikrate erhöhen“, sagt Werner.
Um solche Lösungen zu etablieren, müssen deutsche Datenschutzrichtlinien beachtet werden. Idealerweise werden schon bei der Entwicklung Datenschutzbeauftragte involviert. Denn während Daten in den USA monetarisiert werden, haben wir in Deutschland und Europa - geprägt durch ein anderes Wertemodell - ein anderes Datenschutzverständnis: Hier steht die Souveränität des Bürgers und des Patienten im Mittelpunkt. Nur er sollte über die Verwendung seiner Gesundheitsdaten frei entscheiden dürfen. „Wir müssen sicherstellen, dass wir bei den Patienten einen Vertrauensbonus aufbauen“, sagt Ozegowski. Wenn klar sei, dass Patientendaten nicht dem Hausarzt oder der Fachärztin gehören und auch nicht einem Konzern, sondern allein den Patientinnen und Patienten, stiegen auch die Chancen, dass die Bevölkerung Teile dieser Daten für die Forschung bereitstelle.
Ob ein Konzern wie in den USA durch Zusammenarbeit mit einem Gesundheitsversorger Zugriff auf sensible Gesundheitsdaten deutscher Patientinnen und Patienten erhalten soll - sei es zu Forschungs- oder Versorgungszwecken - liegt demnach allein in der Entscheidungshoheit des Einzelnen.
In China dienen Erhebungen dem Staat für die soziale Kontrolle: Neben zahlreichen anderen Informationen fließen auch Gesundheitsdaten – etwa die Bereitschaft zum Blutspenden – in das chinesische Social-Credit-System ein: Der Staat entscheidet anhand des Punktesystems, ob das jeweilige Verhalten belohnt oder sanktioniert wird.
Laut einer aktuellen Studie wurden in der Pandemie zum Beispiel Firmen abgestraft, die zu hohe Preise für medizinische Produkte verlangten oder gefälschte Produkte in Umlauf brachten. Auch Verstöße gegen Quarantäne-Vorschriften seien geahndet worden. Sanktionen können zum Beispiel sein, dass man für bestimmte Regierungsjobs nicht in Frage kommt oder nicht in Sternen-Hotels übernachten darf. Das System sei aber auch dazu genutzt worden, besonders „vorbildliche“ Menschen oder Firmen zu Propagandazwecken zu feiern. Die Belohnungen dafür variieren der Studie zufolge je nach Region. Als Beispiele werden eine schnellere Bearbeitung von offiziellen Anträgen, aber auch Geldzahlungen genannt.
Gerade Verordnungen wie die EU-weite Datenschutz-Grundverordnung DSGVO können helfen, den Handlungsspielraum in Europa und auf nationaler Ebene abzustecken: indem Datennutzungen je nach Zweck und Funktion klar definiert und Verstöße bestraft werden. Dann könnten Bürgerinnen und Bürger frei entscheiden, ob sie Teile ihrer Daten für eine deutschland- oder europaweite Studie anonymisiert spenden wollen, beispielsweise zur Forschung an Herzkrankheiten, Krebs, Demenz und auch seltenen Krankheiten.
Insbesondere die Corona-Pandemie hat gezeigt wie wichtig grenzübergreifende Forschung ist. Genau hier, in der Forschung, liegt der wohl größte Nutzen einer europaweiten Datenstandardisierung. Mit gemeinsam festgelegten Schnittstellen können auch Services wie Telemedizin europaweit etabliert werden. Einheitliche Regelungen könnten sicherstellen, dass etwa bei einem Unfall während des Urlaubs in Spanien die deutsche Patientenakte auch für die spanischen Ärztinnen und Ärzte einsehbar ist. Europa kann einen Regelkatalog schaffen, der für außereuropäische Konzerne bindend ist, wenn sie ihre Produkte hier auf den Markt bringen wollen. Vernetzung und neue Services erfüllen dann ein zentrales Ziel: das verbesserte Wohl der Patientinnen und Patienten.
Über Die Techniker
Mit rund 11 Millionen Versicherten ist die Techniker Krankenkasse (TK) die größte Krankenkasse in Deutschland. Die rund 15.000 Mitarbeitenden setzen sich tagtäglich dafür ein, den TK-Versicherten eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung zu gewährleisten. Mit zahlreichen Innovationen – wie zum Beispiel der elektronischen Gesundheitsakte TK-Safe – ist es das Ziel der TK, die Digitalisierung im Gesundheitswesen voranzutreiben und ein modernes Gesundheitssystem maßgeblich mitzugestalten. Focus-Money zeichnete die Techniker bereits zum 17. Mal in Folge als „Deutschlands beste Krankenkasse“ (Focus Money 7/2023) aus.