Willkommen im New Normal

Das „Ob“ ist geklärt, nun geht es um das „Wie“. Die nachhaltige Transformation der Wirtschaft ist eingeleitet, nun liegt es an Regierungen, Kapitalmarkt und Unternehmen, diese erfolgreich zu gestalten. Welche Aspekte für den Erfolg entscheidend sind.

19. Mai 2021 - 6 Min. Lesezeit

Wer dachte, dass die Debatte rund um die nachhaltige Transformation der deutschen Wirtschaft durch die Coronapandemie an Tempo verlieren würde, der wurde in den vergangenen Wochen eines Besseren belehrt: Angetrieben von einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat die Bundesregierung eine Verschärfung der Klimaziele beschlossen. Die Europäische Union möchte erreichen, dass die Mittel aus dem Corona-Hilfsprogramm zumindest zur Hälfte in Modernisierungsmaßnahmen fließen, die der Umwelt, dem sozialen Ausgleich und einer modernisierten Verwaltung dienen sollen.

Parallel dazu hat die Europäische Union ihre Taxonomieverordnung konkretisiert, so dass zum Beispiel Finanzdienstleister nun wissen, nach welchen Kriterien sie die Nachhaltigkeit von Investments bewerten können. „Die neuen Bestimmungen werden eine grundlegende Wende im Finanzwesen herbeiführen“, sagte die zuständige EU-Kommissarin Mairead McGuinness. „Wir setzen ehrgeizigere Maßstäbe im Bereich des nachhaltigen Finanzwesens, damit Europa bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent wird. Die Zeit ist gekommen, auf Worte Taten folgen zu lassen und nachhaltig zu investieren.“

Das Bemerkenswerte an diesen Ereignissen: Kaum jemand beschwert sich. Sogar Kapitalismusvordenker wie Stephen Schwarzman von der Investmentfirma Blackstone Group fordern mittlerweile, dass sämtliche Geldflüsse und Geschäftsentscheidungen unter nachhaltigen Gesichtspunkten erfolgen sollen. Das Investieren im Sinne von ESG, also Umwelt, sozialer Gerechtigkeit und guter Unternehmensführung, wird zunehmend zum Normalzustand. Vier Gründe für das „New Normal“: 

1. Die Regulierung schreitet voran

Weltweit erhöhen Staaten den Druck auf Unternehmen. In der EU gilt seit Anfang März die Sustainable Finance Disclosure Regulation, die zu mehr Transparenz bei ESG-Finanzprodukten führen soll. Die Maßnahme ist Teil des Action Plans for Financing Sustainable Growth, den die EU-Kommission 2018 verabschiedet hatte.

In den USA hat die neu ins Amt gekommene Biden-Regierung keine Zeit verloren, um das Land wieder auf Kurs Nachhaltigkeit zu bringen, nachdem Joe Bidens Amtsvorgänger Donald Trump das Thema nicht sehr weit oben auf der Agenda hatte. Sowohl ein ambitioniertes Klimapaket als auch eine grundlegende Reform der US-amerikanischen Sozialsysteme stehen auf der Agenda, außerdem wollen sich die USA nun wieder ans Pariser Klimaabkommen halten. In die Pläne ist auch die US-Börsenaufsicht involviert, die an Maßnahmen für mehr ESG-Investments mitarbeiten soll.

Selbst China hat sich auf feste Ziele im Klimabereich festgelegt, bis 2060 will die Volksrepublik bei „net zero“ liegen, also insgesamt nicht mehr CO2 ausstoßen, als sie auch der Atmosphäre entziehen kann.

Ein globales Vorgehen ist auch bitter nötig, denn Nachhaltigkeitsmaßnahmen funktionieren am besten, wenn sie international koordiniert sind. Das gilt zum Beispiel für den Klimaschutz. Der funktioniert nur, wenn die CO2-Emissionen global gesenkt werden. Auch bei der Verbesserung von Lebensbedingungen braucht es weltweite Kooperation. Entsprechend arbeiten viele Industriestaaten seit Jahren an sogenannten Lieferkettengesetzen, in Deutschland wurde ein solches Gesetz gerade vom Bundestag beschlossen. Auch die EU-Kommission wird bald eines vorlegen. Damit wollen Politiker verhindern, dass westliche Unternehmen zum Beispiel in Dritte-Welt-Ländern Menschenrechtsverletzungen bei ihren Zulieferern tolerieren.

2. Die Daten werden besser

Damit alle relevanten Akteure – also Regierungen, Kunden und Investoren – die Nachhaltigkeitsbemühungen eines Unternehmens vernünftig bewerten und mit anderen vergleichen können, brauchen sie Daten. Genau daran hakte es aber in der Vergangenheit. Es gibt verschiedene Standards, außerdem ist oft nicht nachvollziehbar, wie genau Daten erfasst wurden und wie verlässlich sie sind.

Das soll sich zukünftig ändern, dank strikterer gesetzlicher Vorgaben, auch weil Finanzmarktteilnehmer mehr Transparenz fordern. Unternehmen werden künftig mit Zahlen belegen müssen, inwieweit sie Nachhaltigkeitsforderungen gerecht werden. Nur wenn professionelle Investoren wie Fondsmanager und Private-Equity-Investoren diese haben, können sie ihren Kunden vernünftige Begründungen liefern, warum sie in ein Unternehmen investieren.

Ein großer Schritt ist die angekündigte Kooperation von fünf der wichtigsten Standardsetzer: das Carbon Disclosure Project, das Climate Disclosure Standard Board, die Global Reporting Initiative, das International Integrated Reporting Council und das Sustainability Accounting Standards Board. Gemeinsam wollen sie einen umfassenden Reporting-Standard für Unternehmen schaffen. Dazu kommen einige junge Start-ups, die mit neuen Lösungen, zum Beispiel über Software, Unternehmen die Datenerfassung und -aufbereitung einfacher machen wollen.

3. Der Finanzmarkt bietet mehr Instrumente

Wenn sie die nötige Datengrundlage liefern, können Unternehmen darauf hoffen, in den Markt für ESG-konformes Kapital einzutreten. Längst geht es dabei nicht mehr nur um Green Bonds, auch Social Bonds spielen eine Rolle, außerdem ESG-Linked Bonds, Loans und Schuldscheindarlehen. Dabei handelt es sich um Instrumente, deren Zinssatz an das Erreichen bestimmter messbarer Ziele geknüpft ist. Das kann zum Beispiel ein ESG-Rating sein: Fällt ein Unternehmen dabei ab, erhöht sich der Zins. Wie genau dieser ESG-Link aussieht, können die Firmen mit den Kapitalmärkten individuell aushandeln. So hat das Pharmaunternehmen Novartis zum Beispiel einen Sustainability-Linked Bond ausgegeben. Die Firma verpflichtet sich dazu, bis 2025 Menschen in ärmeren Ländern Zugang zu innovativen Therapien zu geben, außerdem wollen die Schweizer rund 50 Prozent mehr Menschen mit ihren Programmen zur Bekämpfung von Malaria, Lepra, Chagas-Krankheit und Sichelzellkrankheit zu erreichen. Ob diese Ziele erreicht werden, soll ein externer Prüfer im Blick behalten. 

4. Die Unternehmen ziehen mit

Kaum ein Unternehmen kann sich heute noch den Debatten um gesellschaftliche Verantwortung entziehen. Fast jede Firma sucht heute nach ihrem „Purpose“, dem Unternehmenszweck, der über die reine Profiterwirtschaftung hinausgeht. Längst ist dieser Aspekt auch kein „Nice to have“ mehr, stattdessen droht einem Unternehmen schlechte Presse und (siehe Punkt 3) auch ein eingeschränkter Zugang zu Kapital, wenn es sich Nachhaltigkeitsaspekten verschließt. 

Ein Beispiel dafür, was schiefgehen kann, liefert der britische Modehändler Boohoo: Als im vergangenen Jahr herauskam, dass Boohoo nach wie vor auf ausbeuterische Arbeitsbedingungen zur Kleiderproduktion setzte, brach der Aktienkurs um 40 Prozent ein. Die Konsequenz: Selbst Fast-Fashion-Ketten wie H&M und Primark legen mittlerweile ihre Lieferketten offen.

Auch die Autoindustrie hat ihren Abschied vom Verbrennungsmotor in jüngerer Vergangenheit noch einmal beschleunigt. Volkswagen will zum Vorreiter in der Elektromobilität werden, Zulieferer wie Continental verabschieden sich zunehmend von Unternehmensbereichen, die in Zeiten alternativer Antriebe wenig bis gar keinen Gewinn mehr versprechen. Gleichzeitig setzen sie auf neue Geschäftsfelder, zum Beispiel autonomes Fahren.