»Wir stehen bei vielen Prozessen noch am Anfang«

14. Juli 2021 - 5 Min. Lesezeit

Nach der Taxonomie ist vor der Taxonomie: Die EU-Vorgaben zum umweltfreundlichen Finanzwesen sind mittlerweile konkretisiert, nun arbeitet ein Expertengremium an Vorgaben zur Sozialverträglichkeit der Finanzmärkte. Warum eigentlich erst jetzt? Ann-Ulrike Henning, Nachhaltigkeitsexpertin beim Bundesverband deutscher Banken, spricht über die Bedeutung des Sozialen bei ESG-Maßnahmen und über die Probleme der Finanzmarktteilnehmer, wirksame Kennzahlen für den Bereich zu finden.

Frau Henning, die Umwelttaxonomie ist mittlerweile fertig, die soziale Taxonomie wird jetzt erst ausgearbeitet. Bekommt das Thema zu wenig Aufmerksamkeit?

Sicherlich stehen derzeit die Klimaschutzziele im Mittelpunkt. Doch das S gewinnt zunehmend an Bedeutung. Die EU hat ja schon vor einigen Jahren verdeutlicht, dass soziale Faktoren so wichtig sind wie Umweltthemen. Ansonsten würde sie ja gar keine Sozial-Taxonomie erarbeiten. Auch die Pandemie hat dazu geführt, dass viele jetzt bei sozialen Themen genauer hinsehen. Dazu kommt, dass mehr Klarheit bei Umweltthemen indirekt diese Themen voranbringen kann.

Das müssen Sie genauer erklären.

Nehmen Sie zum Beispiel den CO2-Preis: Der ist mittlerweile keine abstrakte Größe mehr, sondern erhöht manche Kosten ganz konkret, etwa den Benzinpreis. Gerade ärmere Menschen leiden unter solchen Preiserhöhungen. Hier sollte der soziale Ausgleich von Klimaschutzmaßnahmen von Anfang an mitgedacht werden. Und die aktuellen Debatten zeigen ja, dass das geschieht.

Was erwarten Sie denn an konkreten Maßnahmen von der geplanten Sozialtaxonomie der Europäischen Union?

Wir brauchen ein konsistentes Rahmenwerk, ob für „grün“ oder für „sozial“. Daher sollte es wie schon bei der grünen Taxonomie das Ziel der Sozialtaxonomie sein, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Unternehmen brauchen konkrete Anreize, damit sie soziale Themen beachten. Da können wir uns auch an Aspekten der grünen Taxonomie orientieren, die enthält ja bereits die Minimum Social Safeguards.

Klar, dadurch wird die ohnehin schon komplexe Taxonomie noch einmal komplexer. Wie sich das Gesamtkonstrukt dann praktikabel umsetzen lässt, ist noch offen. Da wartet noch eine große Aufgabe auf alle Beteiligten.

Weil so viele verschiedene Aspekte unter den Oberbegriff „Soziales“ fallen?

Ja, eine umfassende und einheitliche Definition ist schwierig. Diversität und Inklusion fallen sicherlich darunter, denn sie sind soziale Belange. Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz ebenso, Vereinigungsfreiheit und Chancengleichheit gehören auch zum Themenkanon. Sozial- und Arbeitnehmerbelange sind außerdem oft mit globalen Menschenrechtsthemen verbunden, die Diskussion geht also weit über Europa hinaus.

Dabei geht es ja vor allem um interne Prozesse. Welche Rolle spielen denn Produkte, die soziale Themen voranbringen, etwa Medizinprodukte oder der Wohnungsbau?

Eine große. So wichtig es ist, sozial negative Auswirkungen im Blick zu haben, so wichtig ist es auch zu berücksichtigen, wenn ein Unternehmen einen positiven Beitrag zu sozialen Themen leistet. Wie dieser Beitrag genau aussieht, das kann je nach Region oder Branche sehr unterschiedlich sein. Gesundheit und Wohnraum haben Sie schon angesprochen, auch Themen wie Bildung spielen da rein. Bei jeder Maßnahme muss sich das Unternehmen fragen, was die Zielgruppe für eine soziale Maßnahme ist: die eigenen Mitarbeiter, die Kunden oder „die“ Gesellschaft.

Wie findet man dann aussagekräftige Kennziffern, um diese sehr komplizierte Gemengelage rund um das S in ESG abzubilden? So einfach wie bei der CO2-Bepreisung dürfte es ja nicht gehen.

Da tut sich gerade viel. Es gibt bereits heute Standards, die Unternehmen nutzen können, etwa die Global Reporting Initiative oder die Global Compact Initiative der Vereinten Nationen. An deren Sustainable Development Goals können sich Firmen orientieren und dokumentieren, inwieweit sie dazu einen Beitrag leisten. Dabei geht es um Bekämpfung von Hunger, den Zugang zu Bildung, die Geschlechtergleichstellung und um Reduzierung der Ungleichheit.

Das sind aber noch keine klaren Messzahlen.

Diese Grundlagen bilden aber die Basis für die Arbeit an quantitativen Indikatoren. Etwa für die Arbeit der International Capital Market Association (ICMA) als Branchenverband für Kapitalmarktteilnehmer. Die hat für die Unternehmensfinanzierung den „Social Bonds Standard“ entwickelt. Dieser erlaubt Wirkungsmessung anhand definierter Kategorien – etwa Anzahl von Begünstigten und Zielgruppen.

Da geht es um das Thema Unternehmensfinanzierung. Wie sehr honorieren die Finanzmärkte Unternehmen, die soziale Aspekte in den Vordergrund rücken?

Die Aufsicht positioniert sich in diesem Bereich stärker: Die EBA-Leitlinien zur Kreditvergabe und Kreditüberwachung stellen auch auf soziale Belange ab. Dies dürfte zukünftig mehr und mehr Gegenstand von aufsichtlichen Prüfungen sein. Die EU-Sozialtaxonomie hatten wir ja bereits besprochen.

Wie sieht es konkret bei den Mitgliedern des Bankenverbandes aus, also den privaten Instituten?

Die privaten Banken bauen Nachhaltigkeitsthemen Stück für Stück in ihr Kerngeschäft ein. Sozialer Ausgleich, Förderung der Menschenrechte und nachhaltige Unternehmensführung sind hierbei schon heute wichtige Aspekte. Risiken zu steuern gehört zum Kerngeschäft der Banken. Nachhaltigkeitsrisiken aufgrund von sozialen Aspekten stellen dabei einen möglichen Risikotreiber dar, den es immer besser zu berücksichtigen gilt. Wir stehen sicherlich bei vielen Prozessen noch am Anfang. Doch viele unserer Institute sind da bereits dran.

Und die Unternehmen nutzen die entsprechenden Instrumente wie etwa Social Bonds auch?

Wir beobachten, dass das Interesse an nachhaltigen Finanzprodukten wächst: Bei den Kundinnen und Kunden, aber auch bei privaten Banken. Das kann dann zum Beispiel so aussehen, dass Institute spezielle Darlehen für Unternehmen anbieten, die messbar positive gesellschaftliche Wirkungen erzielen. Die Emissionen von Social Bonds stiegen im vorigen Jahr auf ein Rekordniveau von 147,7 Milliarden US-Dollar. Das setzt sich bei Social Bonds anscheinend auch im Jahr 2021 fort.

Zur Person: Ann-Ulrike Henning ist Associate Director für Nachhaltigkeit beim Bundesverband deutscher Banken. Zuvor war sie zwölf Jahre bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit tätig, unter anderem als Beraterin für das Unternehmens- und Forschungsnetzwerk German Water Partnership. Henning hat Sozialwissenschaft, Internationale Politik und Soziologie in Rostock und Berlin studiert.